Das Gegenteil von Betriebsblindheit

Es war einmal – Einschub: Wir befinden uns im Jubiläumsjahr der Brüder Grimm, denn vor 200 Jahren erschien ihre Märchensammlung zum ersten Mal. So kreative Juristen sah man seitdem selten – , da saß ich als Kind auf einem Möbel und starrte auf die Gardine. Lange, ja für Kindermaßstäbe sogar sehr lange, bis sich etwas schier unglaubliches tat. Die Gardine fing an zu flimmern, ich sah buchstäblich Sterne. Alles, bis auf die Gardine, wurde schwarz. So, als würde man die Augen schließen, also nicht richtig schwarz, sondern so buntschwarz, ja science-fiction-schwarz, so wie man sich einen Weltallstrudel vorstellt.
Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass auch die langweiligsten Dinge (Was ist langweiliger als eine Gardine?) aus der ein oder anderen Perspektive doch interessant sein können.

Das erinnert mich an solche Bilder aus meiner Kindheit, auf denen zunächst nur massenweise Blumen oder Herzen oder so zu sehen sind. Die, die man an die Nase halten und dann langsam immer weiter wegziehen muss, wobei man sich dann immer auf einen Punkt konzentrieren soll und wo dann ein 3D-Bild von einem Nilpferd oder was weiß ich entsteht. Ich weiß es wirklich nicht, den bei mir hat das nie geklappt. Außerdem gab es 3D ja auch noch gar nicht. Das ist ja erst vor kurzem von Hollywood erfunden worden.
Ich habe diese Bilder jedenfalls immer für Humbug gehalten. So wie Platten von Queen, die sich beim rückwärts Abspielen wie Heino vorwärts anhören oder so. Meine Erinnerung an das Gardinenerlebnis lässt mich nun zweifeln, ob an den Bildern nicht vielleicht doch was dran war.

Wenn man zu lange auf etwas starrt, kann es also passieren, dass sich dieses Etwas durch das bloße Anstarren verändert, siehe auch Betriebsblindheit, die. Obwohl, nein, da ändert sich ja gerade gar nichts bei zu langer Beschäftigung mit einer Sache, also vergessen wir das ganz schnell.
Ich sitze beruflich an einer deutschen Vokabelliste mit 600 Wörtern und dazugehörigen Beispielsätzen. Das war eher so Fummelarbeit, was ich ab und an ganz gerne mache, und Lernende, die diese Wörter verstehen müssen haben es da eh schwerer als ich. Trotzdem beschäftigte ich mich damit viel zu lange und erste Gardinenerscheinungen traten ein.

Die Sätze zu den Vokabeln, erschienen einen Sinn zu ergeben. Ich war verschlüsselten Geheimbotschaften auf der Spur. Die vielen kleinen Teile ergaben bei längerer Betrachtung eine eigene Geschichte. Hier die Originalsätze, die in folgender Reihenfolge ein Eigenleben entwickelten:

Ab morgen muss ich arbeiten.
Ich bin oft im Büro, aber nur für wenige Stunden.
Das ist eine schwere Arbeit.
Meine Frau ist gestern gestorben.
Sie können mir glauben, es ist so.
Ist Post da?
Da ist ein Brief für dich ohne Absender.
Können Sie mir seine Adresse sagen?
Er antwortet nicht.
Können Sie mir eine Auskunft geben?
Er gibt leider keine Antwort.
Ich muss meine Schlüssel abgeben.
Was machst du heute Abend?
Darf ich dich besuchen?
Wir treffen uns am Bahnhof.
Vor der Abfahrt rufe ich an.
Ich muss mich noch anziehen.
Heute regnet es.
Hier regnet es viel.
Ich nehme die nächste Bahn.
Ich komme bald.
Zum Bahnhof ist es nicht weit.
Wir haben ein Apartment gemietet.
Wo macht man hier das Licht an?
In unserer Straße gibt es ein neues Lokal.
Hast du etwas zu trinken? Ich habe großen Durst.
Ich nehme ein Bier. Willst du auch eins?
Welchen Wein können Sie mir empfehlen?
Noch ein Bier bitte.
Möchtest du etwas trinken?
Bitte noch ein Glas Wein!
Dieser Wein riecht gut.
Eine Flasche Bier, bitte.
Es ist schon spät, ich muss gehen.
Ich bin müde. Ich gehe schlafen.
Heute Nacht war das Licht an.
Kannst du mir das erklären?
Mach bitte das Licht aus!
Sie ist böse auf mich.
Das Licht ist aus.
Mir ist schlecht!
Mein Arm tut weh.
Mein rechtes Bein tut weh.
Seit gestern tut mir der Bauch weh.
Ich muss zum Arzt gehen.
Morgen habe ich einen Termin bei meiner Ärztin.
Leider kann ich nicht kommen. Ich muss zum Arzt.
Ich gehe jetzt nach Hause.
Die Sonne scheint.
Wir müssen den Schlüssel finden.
Da hinten ist er ja.
Das ist der Schlüssel für die Haustür.
Ich habe die Schlüssel in der Tasche.
Das ist doch schön, nicht?

Das kann doch kein Zufall sein! Das ist erstklassiger Stoff für einen Film Noir! Ich werde mir die Rechte sichern und vielleicht wird ja ein Film Film draus. Die Vokabelliste bzw. das Drehbuch gibt es hier beim Goethe-Institut als PDF.

Die Fummelarbeit hat sich für mich also gelohnt. Auch wenn das hier alles Nonsense ist, hab ich mich dadurch an schöne Bilder und Gardinenflimmereien erinnern können. Ich habe mal gehört, dass der Alltag die spannendsten Geschichten schreiben soll. Das will ich nicht bestätigen, aber ich glaube, ich bin dem Kern dieser Aussage ein Stückchen näher gekommen.

Autor: Stefan

Japanologe, Deutsch-als-Fremdsprachler, Blogger, Schatzsucher. Hobbys sind Lesen, Gucken und Machen.

Kommentar verfassen